Einen Einstieg zum Thema „Agile Organisationen“ haben wir bereits mit unserem 3-Teiler gegeben. Im Interview mit Thorsten Sturm – Experte für Agilität in Unternehmen – schauen wir noch einmal tiefer ins richtige Leben und sprechen mit ihm über SCRUM als agile Management-Methode: Was ist SCRUM wirklich und was muss beim Einsatz im eigenen Unternehmen beachtet werden?
Florian Rathmann: Hallo Thorsten, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns gemeinsam das Thema „SCRUM“ zu durchleuchten? Starten wir mit der einfachen Frage – Was ist SCRUM?
Thorsten Sturm: Sehr gerne. SCRUM ist eine Management-Methode. Der Teil, der an dieser Stelle gemanagt wird, ist die Lieferung – die Delivery. Wobei der Begriff Delivery, zumindest im Software-Kontext, mehr die Erstellung der Lösung bedeutet als die Auslieferung an sich.
Florian Rathmann: Gibt es Schritte, die nicht durch SCRUM abgedeckt werden?
Thorsten Sturm: Ja. Denn der Prozess der Ideen-Erzeugung und Ausgestaltung findet in dieser Mechanik keinen Platz. Also alles was unter Discovery bzw. Ideation fällt, das gibt es an der Stelle nicht und wird nach reiner Lehre nicht betrachtet. Die Anforderungen sind vor dem Einstieg in den SCRUM-Prozess gegeben und werden an dieser Stelle dann verwaltet. Die Mechanik, die partizipierenden Personen und die Aufgaben werden beschrieben, aber der einzige, der nicht explizit vorkommt, ist der Kunde. Die kundenzentrierte Entwicklung wird durch die SCRUM-Mechanik nicht forciert. D.h. es sollte darauf geachtet werden, SCRUM in eine Umgebung einzubetten, in der schon sehr kundenzentriert gearbeitet wird.
Florian Rathmann: Und wenn wir nun an die praktische Umsetzung denken, welche Steps und Rollen gibt es in SCRUM?
Thorsten Sturm: In der Umsetzung beginnt SCRUM damit, dass der Product Owner die vorhandenen Anforderungen in eine geeignete Form bringt, sodass ein Umsetzungsteam damit umgehen kann. Er pflegt diese in ein Backlog ein, priorisiert sie und gibt sie dann häppchenweise zur Umsetzung an das Team. Die Umsetzung erfolgt dann in möglichst gleich langen Zeitabschnitten, sogenannten Sprints. Das Sprint Planning beinhaltet dann die Definition eines Happens – also welchen Teil des Backlogs der Product Owner gerne im nächsten Sprint umgesetzt haben möchte. Hier werden zwei Sichtweisen vereint. Der Product Owner versucht aus einer fachlichen Sicht, die Anforderungen zu beschreiben – in Form einer User-Story – sowie verständlich zu machen, welche Kriterien er für die Akzeptanz der fertigen Lösung anlegen will. Und das Entwicklungs-Team bewertet aus ihrer Sicht die Umsetzbarkeit dieser Vorstellung (Umfang und Machbarkeit). Im zweiten Schritt des Sprint-Plannings geht das Entwicklungs-Team dann ins Detail. Denn um eine User-Story umzusetzen, gibt es viele kleine Teilaufgaben, die erfüllt werden müssen und die versuchen die Entwickler zu identifizieren, zu diskutieren und auszuarbeiten, um dann eine bessere Vorstellung davon zu haben, was sie machen wollen und können.
Anschließend beginnt der Alltag. Nach dem Planning startet der Sprint offiziell. Gängige Sprint-Dauer ist dabei im Moment 2-3 Wochen. Das Team arbeitet jetzt daran, die Aufgaben und Stories abzuarbeiten, die im Planning definiert wurden. Der Product Owner hat während des Sprints die Rolle, dem Team als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen. Denn während der Umsetzung gibt es in der Regel immer noch Fragen, die erst in der Lösungsfindung auftauchen, auf die das Team aber natürlich eine Antwort braucht. Und das ist auch eine der Stärken von SCRUM – schnelles Feedback. Unkomplizierter und direkter Austausch zwischen Product Owner und Entwicklungs-Team, um zu verhindern, dass das Team in die falsche Richtung läuft.
Florian Rathmann: Und wie funktioniert die Kommunikation bzw. das Reporting während eines solchen Sprints?
Thorsten Sturm: Während des Sprints gibt es täglich ein Stand-up (Daily SCRUM) von 5-15 Minuten. Dabei handelt es sich nicht um ein Reporting – explizit nicht! Es ist sogar so, dass der Product Owner vom Team zugelassen werden kann, aber nicht automatisch Teil des Stand-ups ist. Dieses Daily Stand-up dient dem Informationsaustausch innerhalb des Teams. Jedes einzelne Teammitglied berichtet darüber, an welchem Punkt es gerade ist, was die nächsten Schritte sind und wo es Probleme gibt bzw. Hilfe benötigt wird. Das sind die drei klassischen Fragen. Es werden aber keine Details oder Lösungsansätze diskutiert. Das kann dann anschließend in einem separaten Gespräch geklärt werden.
Am Ende jedes Sprints gibt es dann zwei Meetings. Das eine Meeting ist das Sprint-Review – eine Betrachtung dessen, was geliefert wird. Was hat das Team innerhalb des Sprints geschafft? Welche Stories hat es umgesetzt und wie sieht das Ergebnis aus. Das Ergebnis wird hierbei als „Potentially-Shipable-Product-Increment“ bezeichnet, also eine potenziell veröffentlichbare Erweiterung der bisherigen Lösung. Der Product Owner und gegebenenfalls weitere Stakeholder gucken sich die Ergebnisse an und haben die Möglichkeit bestimmte Funktionen auszuprobieren. Im Prinzip ist es wie eine interaktive Demo.
Florian Rathmann: Und das zweite Meeting?
Thorsten Sturm: Das zweite Meeting ist eine Retrospektive und bezieht sich darauf, wie diese Lieferung zustande gekommen ist. D.h. wie hat das Team zusammengearbeitet? Es findet nur innerhalb des Teams statt. Was hat gut funktioniert und was nicht? Was soll geändert werden? Was sind konkrete Aktionen, die zu einer gewünschten Veränderung führen? Und das wird mit konkreten Verantwortlichkeiten belegt. Die Retrospektive ist gleichzeitig das Ende des Sprints. Danach geht es wieder von vorne los.
Florian Rathmann: Welche Rolle nimmt dabei der SCRUM Master ein?
Thorsten Sturm: Aus einer mechanischen Sicht ist der SCRUM Master relativ unerheblich. Aber aus der Sicht eines funktionierenden Teams und eines funktionierenden SCRUM Mechanismus ist der SCRUM Master unabdingbar. Der SCRUM Master agiert im Hintergrund. Er schreibt keinen Code, macht keine Demo – er macht also im Prinzip nichts „Produktives“. Er ist aber dafür zuständig das Team zu schützen, z.B. wenn der Product Owner versuchen sollte, während des Sprints Veränderungen an einer vereinbarten Story vorzunehmen. Genauso versucht er Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die das Team davon abhalten, die optimale Leistung zu bringen. Das kann eine Reparatur der Kaffee-Maschine sein oder aber auch das Verhindern von Unterbrechungen durch Anfragen aus anderen Abteilungen. Darüber hinaus ist er der „Zeremonienmeister“ des Teams und leitet sämtliche Meetings innerhalb von SCRUM.
Florian Rathmann: Bitte kurz und knapp: Warum sollte ein Unternehmen deiner Meinung nach das SCRUM-Prinzip nutzen?
Thorsten Sturm: SCRUM ermöglicht kurze Feedback-Zyklen und eine relativ zeitnahe und flexible Steuerung dessen, was umgesetzt werden soll. Wenn ich als Unternehmen nicht ganz genau weiß, was ich umsetzen möchte, eine Unsicherheit darin habe, was das Richtige ist bzw. noch keine klare Zielvorstellung besitze, dann eignen sich agile Methoden. Denn sie liefern ein schnelles Feedback und ermöglichen eine Umsteuerung, Veränderungen oder lassen auch ganze Richtungsänderung einfach und schnell zu.
Florian Rathmann: Aber reduziert SCRUM in Bezug auf die Arbeitsprozesse auch direkt Komplexität?
Thorsten Sturm: Das lässt sich relativ schwer sagen. Grundsätzlich ist es so, dass der Wechsel auf SCRUM ein Change ist, und je nach dem was ein Unternehmen vorher gemacht hat, ist der Change mehr oder weniger groß. SCRUM selber ist, das sieht man ja auch an der Grafik, verhältnismäßig einfach gestrickt. Einem Raum voller Manager zu erklären, wie SCRUM funktioniert, kann man innerhalb einer Viertelstunde. Wie SCRUM mechanisch funktioniert, ist aber nicht der Trick hinter dem Ganzen. Die eigentliche Herausforderung ist, dass eine Veränderung in der Einstellung bewirkt werden muss – eine Veränderung hin zum agilen Denken. Das agile Denken beinhalten eben genau diese Themen: schnelles Feedback, flexibel sein, auf Qualität fokussieren, versuchen, gleichmäßig zu arbeiten.
Florian Rathmann: Vor welchen Herausforderungen stehen Manager, die SCRUM bei sich im Unternehmen einführen wollen? Worauf müssen sie sich gefasst machen?
Thorsten Sturm: SCRUM ist die Mischung aus einem veränderten Mindset und einer festgelegten Mechanik. Daher lässt sich ein typisches Change-Prozess-Verhalten beobachten. Nach der Einführung fällt das Produktivitätslevel im ersten Moment ab. Die betroffenen Personen müssen sich zurechtfinden und an die Veränderung gewöhnen. Allerdings mit der Hoffnung, dass durch den Change am Ende ein höheres Produktivitätslevel erreicht wird. Und im Verhältnis zu manch anderen Change-Prozessen ist der Abfall bei SCRUM häufig geringer.
Florian Rathmann: Und was unterscheidet SCRUM von anderen agilen Management-Methoden?
Thorsten Sturm: Hier muss unterschieden werden, an welcher Stelle die agile Methode zum Einsatz kommt. Andere Methoden wie zum Beispiel Design Thinking und Fast Prototyping sind Mechanismen, die vor oder auch im SCRUM-Prozess liegen. Design Thinking wird für Ideation und Discovery eingesetzt und versucht, mit einem sehr agilen Prozess auf Ideen, Chancen und Möglichkeiten zu kommen und diese dann einzusetzen. Aber SCRUM ist Delivery: Ich weiß, was ich will – zumindest zu bestimmten Teilen – und SCRUM managed, wie ich das umsetze.
Florian Rathmann: Gibt es denn auch andere agile Methoden, die auf die Delivery Methodik zielen? Und wenn ja, was ist der Unterschied?
Thorsten Sturm: Sicher. Ein Beispiel ist Kanban. Kanban ist eine Methode im Rahmen von Lean Management und vereint Ideen aus dem Produktions-System von Toyota und der „Theory of Constraints“ (kritische Kette) von Eli Goldratt. Im Kern ist Kanban eine Change Management Methode, die aber bisher besonders oft in Delivery-Organisationen eingesetzt wird. Der große Unterschied zu SCRUM ist, dass nicht iterationsbasiert sondern flussbasiert gedacht wird. SCRUM hat einen Startpunkt und einen Zielpunkt und die wiederholen sich relativ oft. Kanban versucht, kontinuierlich zu entwickeln, Anforderungen zu stellen, zu verfeinern und zu liefern. Aber natürlich teilen die sich eine Menge von den grundsätzlichen Praktiken und Ideen die dahinterstehen.
Florian Rathmann: Wenn ein Unternehmen SCRUM nutzen und einführen möchte, wie würden Sie starten? Was sind die ersten Schritte? Und welche Fehler sollten nicht gemacht werden?
Thorsten Sturm: Ich glaube der größte Fehler ist, ein Team zu bilden und SCRUM anzufangen. Dem Team kann SCRUM und ein agiles Mindset wahrscheinlich vermitteln werden. Und wenn es ein gutes Team ist, dann adaptiert es das Gelernte auch sehr schnell und Begeisterung kommt auf.
Florian Rathmann: Aber?
Thorsten Sturm: SCRUM funktioniert nicht isoliert in einem Team. So etwas funktioniert nur als gesamtheitliche Veränderung in einem Unternehmen. Das heißt nicht, dass das gesamte Unternehmen nach SCRUM organisiert sein muss und arbeiten soll. Es bedeutet aber, dass allen Bestandteilen des Unternehmens, vor allem denen, die damit in Kontakt kommen, klar sein muss, was das bedeutet, was auf sie zu kommt und was von ihnen gefordert wird. Denn die Veränderungen betreffen nicht alleine das Team, sondern auch das Team umgebende organisatorische Ökosystem.
Florian Rathmann: Wie kann ich also starten?
Thorsten Sturm: In der Praxis ist für mich der erste Schritt auszuloten, wie weit ein Unternehmen bereit ist, SCRUM zu nutzen. Dabei versuche ich, den direkt betroffenen Managern die Bedeutung, Vorteile & Nachteile, erforderliche Veränderungen nahezubringen. Wenn das Management ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Linie gefunden hat, ist eine wichtige Grundlage für SCRUM und seine Nutzung geschaffen.
Florian Rathmann: Zum Abschluss: Was ist dein persönliches Fazit zum Thema SCRUM und dem Einsatz in Unternehmen?
Thorsten Sturm: Ich glaube, es gibt kein Unternehmen, dem Agilität schadet. Die Frage ist mehr, an welchen Stellen und in welchen Situationen SCRUM sinnvoll einzusetzen ist. Agile Methoden und auch SCRUM lassen sich am besten dann einsetzen, wenn noch nicht klar ist, welches Ergebnis ich verfolge oder was meine nächsten Schritte zu einem Ziel sein sollen. Dann kann ich agile Methoden verwenden. Weil ich durch die kurzen Feedback-Zyklen und die Möglichkeit einer schnellen Anpassung, kein halbes Jahr an Arbeitsaufwand „versenke“, sondern nur zwei Wochen. Und Unternehmen die sich auf so etwas einlassen, die profitieren stark von einem solchen Vorgehen. Es ist aber, wie gesagt nicht nur eine Mechanik, sondern insbesondere ein Mindset, das dahintersteckt. Nur wenn sich das Unternehmen auf das Mindset einlässt – was nicht heißt, dass das ganze Unternehmen agil arbeiten muss – dann wird SCRUM einen Mehrwert stiften.